Kunst + Stein 
Dezember 2002

Objekte und Projekte
KATHRIN FRAUENFELDER

HEINZ NIEDERER -- PORTRÄT EINES UNERMÜDLICHEN
Industriebauten, Lagerhallen, Parkplätze, knorrige Bäume und der letzte als Industriedenkmal zurückgelassene Gaskessel prägen heute das etwas ausserhalb des Stadtkerns von Schlieren liegende Parkareal. In den verlassenen Fabrikgebäuden und Verteilerstationen haben sich in den 80er Jahren Bildhauerinnen und Bildhauer niedergelassen. Auf Initiative von Heinz Niederer haben sie sich 1983 zur Arbeitsgemeinschaft Zürcher BildhauerAZB zusammengeschlossen. Zwischen den eigenwilligen Architekturen des Geländes stehen ihre Skulpturen, gefertigt aus Holz, Stein oder Eisen. Sie stammen von Jürg Altherr, Ursula Hirsch, Vicenco Baviera, Werner Weber oder Severin Müller um nur einige zu nennen. Es sind kühne Konstruktionen von oft monumentaler Grösse. Werke, die die Plastiker und Plastikerinnen für Ausstellungen realisiert, und die nun hier einen Standort gefünden haben. Manch eine der Plastiken hat zu anregenden, zumal vehementen Diskussionen Anlass gegeben.
Auch Heinz Niederer hat Plastiken vor seiner Ateliertür stehen. Geschmiedete Arbeiten aus Eisen oder Chromstahl. Auch ein Ensemble von Schmiedestücken. Niederer hat dieses nicht selbst hergestellt. Die Serie ist vielmehr das Produkt der künstlerischen Aufmerksamkeit. 
Ursprünglich waren es mangelhafte Elemente,  auf der 2000-Tonnenpresse bei Sulzer Winterthur geschmiedet.  Zum Beispiel 3 Tonnen schwere Zylinderdeckel für Schiffsdieselmotore.  Weil sie von der Qualität her diesem Zweck nicht genügten, sollten sie ausgeschieden werden. Der Künstler entwickelte die vorgeschmiedeten Teile weiter und formte diese  zu seinen Objekten. 

Im Anschluss an diese künstlerische Phase entwickelt er die heute im Zentrum von Schlieren platzierten Eisenplastik "Chapalki". Die 15 Tonnen schwere Plastik entstand 1989 aus Anlass der Skulpturenausstellung "Eisen 89" in Dietikon. Der Künstler hat sie in den von Roll-Werken in Gerlafingen mit der 3000-Tonnen-Presse aus einem bläulichgrauen walzenförmigen Rohling geschmiedet. Entstanden ist ein archaisches Werk voller Kraft und Ruhe. Im selben Zeitabschnitt (1988-1991) entstand in Altstetten der rot gespritzte Stahlbogen. Verankert in einem Fundament von 150 Tonnen Beton und angefüllt mit 3 Meter Sand überspannt das hohle Stahlrohr elegant und unerschütterlich einen grösseren Gebäudekomplex. Heinz Niederer ist kein Künstler, der sich wiederholt. Jedes seiner Werke ist einzigartig und hat einen ganz eigenen Charakter.
 

 

VOM MATERIAL ZUM EXPERIMENT
Zu Beginn seiner künstlerischen Tätigkeit, meinte Niederer im Gespräch mit "Kunst+Stein", hätte ihn die Arbeit am Objekt, der Werkstoff Eisen und die materialspezifische Ästhetik interessiert. Inzwischen sei er davon abgekommen. Das Experiment und der Arbeitsprozess stünden heute im Vordergrund. Pro Jahr, sagte Heinz Niederer, plane und realisiere er eine Arbeit. Zu mehr reiche die Zeit nicht. Tatsächlich ist der Aufwand immens, den Niederer von der Idee bis zur Ausführung zu bewältigen hat, um eines seiner anspruchsvollen Werke zu realisieren. So habe er lange nach der Wasserscheide zwischen Schwarzem Meer und der Nordsee, zwischen Rhein und Donau in den Bündner Bergen gesucht. Dort wollte er im Sinne der Landart ein Zeichen setzen. Entdeckt habe er den Dschimels am Albulapass. Wie aber ist die vier Tonnen schwere Plastik an den vorgesehenen Ort zu transportieren? Keine Strasse führt dorthin. Schliesslich flog der russische Grosshelikopter "Kamov", der zu Probeflügen in der Schweiz weilte, das Stelenfragment an seinen vorgesehenen Ort. Die Skulptur mit der trichterförmigen Vertiefung fängt seither das Regenwasser auf und führt es je zur Hälfte in den Rhein und in den Inn.
Obwohl sich Niederers Ansatz seit seinen künstlerischen Anfängen 1975 in manchem verändert hat, bleibt er dem Werkstoff Eisen verbunden. 
Das Material hatte er bereits in seiner Lehre als Maschinenschlosser bei den Schweizerischen Bundesbahnen kennengelernt. Nur kurze Zeit habe er mit Gips und Beton experimentiert, meinte Niederer, insbesondere um sich von seinem künstlerischen Lehrmeister Silvio Mattioli, wo er einige Zeit als Assistent gearbeitet habe, zu lösen. Deshalb benützte Niederer auch Eisen anlässlich der Intervention im Verlaufe der "Langen Nacht der Museen" in Zürich im September 2001. Niederer befestigte an der Helmhausbrücke lange Stangen mit trichterförmigen Behältern. In den Behältnissen befand sich Thermit, das durch die chemische Reaktion schmolz und sich als weissglühender Eisenfluss in die Limmat ergoss. Funken sprühten beim Auftreffen auf der Wasseroberfläche. Ein hell leuchtender Knallgasmantel umhüllte den im Wasser erstarrten Eisenkern. Das Wasser schien zu brennen. Niederers Aktion bot optisch ein faszinierendes Schauspiel, das Hunderte von neugierigen Beobachtern mitverfolgten. Die Aktion demonstrierte eindrücklich, wie nahe Schönheit und Gewalt oft beieinander liegen.

 

 

 

 

DIE ZEIT VERANSCHAULICHEN
Niederers künstlerisches Denken umkreist jene geheimnisvollen Bestände mit denen sich die Menschen seit jeher beschäftigen. Wie schon die alten Philosophen nach Harmonie suchten, und, um diese zu erklären, nach Regeln forschten, so befasst sich auch Niederer mit den Strukturen des Kosmos. Die Veranschaulichung der Struktur der Zeit ist dabei ein wesentlicher Aspekt. "Eisschiff" visualisierte die zeitliche Strukturen durch die Auflösung des skulpturalen Volumens. Nur knappe 42 Minuten dauert der Vorgang. Andere Arbeiten sind in den Ablauf grosser Zeiträume integriert. Das Konzept des Werkes "Vier Graphiteier" erfüllt sich erst nach 1,8 Millionen Jahre. So lange wird es dauern, bis der Vulkan durch Erosion abgeflacht sein wird und die 1992 im Vulkanschlund des Kilauea auf Hawaii versenkten Graphiteier in Form von Diamanten wieder zum Vorschein kommen werden. Ebenso legt die Internet gestützte Arbeit "Timemark" eine lange Spur in die Zukunft. Die Aktion, die Niederer 1998 gestartet hat, basiert auf der kulturunabhängigen Zeitberechnung des Sternenhimmels. Auf der Vorderseite einer Glasscheibe von der Grösse einer CD wurde die winkeltreue Lambertprojektion der Nord- bzw. Südhalbkugel aufgedruckt. Auf der Rückseite, positioniert auf den Erdmittelpunkt, den Sternenhimmel im Jahr 2000. Die ersten tausend Stücke hatte der Künstler im Bodensee versenkt und damit gleichsam die geologische Schicht datiert. Aufgrund des dargestellten Sternenhimmels wird es einer späteren Kultur möglich sein, das erdgeschichtliche Datum der Entstehungszeit der Scheibe zu errechnen. Alle, die es möchten, können sich via Internet eine Scheibe erwerben und sich mit dem eingravierten Namen an einem Ort ihrer Wahl verewigen. Sie werden so Teilhaber am Gemeinschaftsprojekt.
Niederers Kunst durchbricht oft gängige Postulate. Seine Werke regen zur Auseinandersetzungen an. So auch kürzlich, anlässlich der Skulpurenausstellung im Park des Schlosses in Dottenwil. Anstatt eine Grossplastik im Park zu positionieren, projizierte Niederer seine Sicht auf die Landschaft, die er nach der Lektüre auf seine Art interpretierte. Niederer entdeckte, dass die geografische Ausrichtung eines vom Säntis herkommenden Moräneschutthügels auf den Sonnenaufgang zur Sonnensonnenwende, bzw. in der Gegenrichtung, auf den Sonnenaufgang zur Wintersonnenwende hinweist. Mit der Setzung von zwei zarten geschmiedeten Chromstahlstehlen verweist der Künstler auf diesen Sachverhalt. Das Werk soll daran erinnern, dass die Bauern früher hierher gekommen sind, um ihre Kalender zu eichen. So lässt das Werk eine längst vergangene Lebenshaltung aufscheinen, nach der sich die Menschen nach den Zeichen des Kosmos richteten und sich so Orientierung verschafften.
Niederers Oeuvre ist gekennzeichnet von der steten Suche nach neuen Wegen und frischen Perspektiven. Den Bereich der geschmiedeten Skulptur und der Herstellung des einzelnen autonomen Objektes hat er längst verlassen, um stattdessen mit kühnen Interventionen die Aufmerksamkeit für die Wahrnehmung der räumlichen und zeitlichen Dimensionen zu schärfen.