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MIT DEM WAHNSINN LEBEN.
Ob er sich mit dem sekundenschnellen Internet oder mit Jahrtausenden dauernden Erosionsprozessen beschäftigt: immer fasziniert den Zürcher Plastiker Heinz Niederer das Phänomen Zeit. Seine Kunstwerke wollen Sinn-Bilder der Welt sein.



Er sei ein «Überzeugungstäter», sagt Heinz Niederer. Leitsatz für sein künstlerisches Programm sei der Ausspruch von Pierre Teilhard de Chardin: «Im kosmischen Massstab gesehen hat nur das Phantastische eine Chance, wahr zu sein.» Mehr noch als die Bildhauerei an sich interessiere ihn deshalb «der Schnittpunkt der drei Achsen Objekt-Zeit-Ort». 

Mit anderen Worten: Der 59-jährige Stahlplastiker richtet seine gestalterische Energie längst nicht mehr nur auf sein bevorzugtes Material, das Eisen - er hat Methoden gefunden, künstlerische Manifestationen in buchstäblich «überirdischen» Grössenordnungen zu planen, indem er Spuren hinterlässt, die erst in fernster Zukunft sichtbar werden sollen.

Metamorphose im Vulkangestein

Ein kühnes, metaphysisches und gleichzeitig poetisches Beispiel für dieses Konzept sind die «Vier Graphiteier», die Niederer 1992 im Vulkanschlund des Kilauea auf Hawaii deponierte: In etwa 1,8 Millionen Jahren, wenn der Vulkan durch Erosion abgeflacht sein wird, soll das Graphitdepot in Form von Diamanten wieder zum Vorschein kommen - eine Metamorphose von mythenbildender Qualität und ein geradezu olympischer Scherz.

Niederer nennt Gründe für seinen ironisierenden Umgang mit menschlichen Schöpfungsakten und deren Anspruch auf Unsterblichkeit: «Die Vorstellung, dass wir in Atomkraftwerken Abfälle produzieren, die zehnmal so lang toxisch bleiben werden als die ägyptischen Pyramiden stehen, ruft bei mir eine Irritation hervor, die alles relativiert, was ich als Künstler im Augenblick hervorbringe.»



«Wir sind nur Gast auf der Welt»

Als sehr junger Mensch habe er das Eisen - der Stoff, aus dem imposante Artefakte wie Brücken und Bahnschienen oder gewaltige Monumente wie der Eiffelturm gemacht sind - für unzerstörbar gehalten, aber «während meiner Lehre als Maschinenschlosser habe ich mit Zerfallsprozessen leben gelernt». Dann packte den Sohn eines Hutmachers die Leidenschaft für das Formen und Gestalten dieses «scheinbar hermetischen» Materials: Niederer absolvierte Ende der 60er Jahre ein Volontariat beim Schweizer Eisenplastiker Silvio Mattioli. 1975 beschloss er, sein Leben ausschliesslich der Kunst zu widmen. In den folgenden Jahren schuf er archaisch anmutende, auf vielfältige Art bearbeitete Stahlplastiken, die «ein Stück der Welt darstellen, in der ich mich vorübergehend bewege». Fotografien begleiten seither nicht nur Ausstellungen, sondern dokumentieren den Werkprozess auch im Internet: 80 Niederer-Plastiken passieren dort in einer eindrücklichen, weil unkommentierten Diaschau Revue (http://www.plastiker.ch/niederer/).

Trotz - oder gerade wegen - der Einsicht, dass auch Eisen ein vergängliches Material ist und die Zeit, die einem als Mensch zur Verfügung steht, begrenzt, blieb Heinz Niederer unermüdlich in seinem Bestreben, «den Zustand unserer Zivilisation einzufangen», indem er früh «Zeitstrukturen zu visualisieren» begann: 1982 enststanden seine ersten «Zeitplastiken», Werke, die symbolisch auf den Zerfallsprozess des Stahls verweisen.



Zerfalls- und Veränderungsprozesse

Ein Herzinfarkt brachte 1987 die entscheidende Zäsur: die «Philosophie der Zeit» wurde für Heinz Niederer zur Essenz seines Schaffens. «Ich realisierte, dass ich für Dekoration keine Zeit habe. Ich wollte nur noch das tun, was mir unter den Nägeln brennt.» Es enstanden Skulpturen aus Kombinationen von verschiedenen Metallen, die innert wenigen Wochen in neue Formen zerfielen, oder Werke wie das Linzer «Eisschiff» (1997), das nach dreissig Minuten geschmolzen war.

Ein ähnliches Ereignis wurde im Frühling 2001 von den TeilnehmerInnen des Videokurses EB Wolfbach im Bild festgehalten: Niderer goss flüssiges Eisen in die Limmat, wo eine «Zeitskulptur» in Form von winzigen Kugeln entstand, die mit einem Magnetschlitten anschliessend wieder eingesammelt wurden. «Wichtig war der Moment der Aufmerksamkeit, das Sichtbarwerden einer neuen Form», sagt Niederer. «Niemand kann diese Art von Kunstwerk besitzen.»



Kosmische Uhr für die Zukunft

Eine Vision von buchstäblich kosmischen Dimensionen wiederspiegelt sein 1998 begonnenes Projekt «timemark»: Als Internet-Artefakt konzipiert, ermöglicht es Niederers Zeitgenossen, an einer Kunstaktion teilzunehmen, die Millionen Jahre überdauert. Wer will, kann per Internet (http:www.timeart.ch/) eine «Zeitmarke» aus einem unzerstörbaren Material erwerben, eine Scheibe, auf welcher die Position der Sterne im Jahr 2000 eingraviert ist. Diese Scheibe wird, versehen mit dem Namen des Besitzers, an einem frei wählbaren Ort auf der Erde oder unter Wasser platziert - und könnte von einer späteren, hochstehenden Kultur entziffert werden.



«Ich lerne immer weiter»

Projekte, die über unsere Zeit hinauszielen oder Dokumente einer Zivilisation, «die zu lernen versucht, mit dem Wahnsinn zu leben» - das sind Dinge, die Heinz Niederer, Grossvater von vier Enkelkindern, faszinieren. Er könne sich nicht vorstellen, sich zu langweilen, denn ihn interessiere die Welt. Deshalb, sagt er, besuche er Kurse, lerne immer weiter, beschäftige sich mit Chemie, Physik, Astronomie, Geografie, Geschichte, Sprachgeschichte - und selbstverständlich auch mit dem Computer und dem Internet. Für ihn ist das Internet «ein bildendes Medium, eine Kunstform», und «der Computer ist das ideale Hilfsmittel, um Träume zu realisieren». Online, sagt er begeistert, «liegt Schlieren gleich neben Sydney», beides sei gleich schnell zu erreichen. Selbstverständlich arbeitet Heinz Niederer bereits an einem neuen Projekt. Dabei spiele «sekundenschnelle Interaktivität» eine entscheidende Rolle, denn es gehe darum, «ein Luftschloss zu bauen». 

© Irene Prerost