Hans Renggli: Welchen Sinn macht Bildhauerei

Arbeisgemeinschaft Zürcher Bildhauer 1993

Das Wort Bildhauer stammt aus einer Zeit, als die Künste noch klassisch kategorial geschieden wurden. Wortwahlen - das haben wir im Hinblick auf die vielschichtige Ausdrücklichkeit von Zeichen gelernt - sind immer Manifestationen einer spezifischen Daseinsorientierung, und so kann man sich auch fragen, wie sich eine "Arbeitsgemeinschaft Zürcher Bildhauer" in der kulturellen Landschaft unserer Zeit zu orten gedenkt. Im Wort Arbeitsgemeinschaft klingt kollektivistischer Geist an. Man merkt, dass die Gründung zehn Jahre zurück liegt, als soziale Utopien noch einen anderen Rückhalt hatten. Trägt die Gemeinschaft noch in diesem Sinn? Stemmt sich hier eine lebendig-künstlerische Kraft solidarisch ins ruppige Gesellschaftsklima der neunziger Jahre? Man dürfte sich wundern, denn das wäre - um ein zur Zeit strapaziertes Wort zu gebrauchen - eine antizyklische Erscheinung.
Politisches Vorwärtsdenken deckt sich nicht unbedingt im Künstlerischen. Nebenher scheint in der Bezeichnung Bildhauer durchaus auch ein konservatives Motiv durch. Legitimiert sich die Vereinigung gar als defensives Bollwerk des dahinschwindenden Territoriums klassisch-künstlerischer Positionen? Ein Blick auf die künstlerische Arbeitsweise der Mitglieder relativiert die Vermutung. Das künstlerische Gruppenbild ist ausgesprochen heterogen - pluralistisch im symptomatischen Sinn unserer Tage. Konsens besteht vor allem in der Entschlossenheit zur Selbstbehauptung. Praktische Überlebensklugheit ist die Losung. Dafür lässt man sich auch auf künstlerische Haltungen ein, die den eigenen eindeutig widerstreben.
So stand es schon bei der Vereinsgründung. Das Motiv war ein praktischer Notstand. Künstler wollten das Nomadentum in Provisorien beenden, zu dem sich Künstler durch das knappe Angebot von Arbeitsraum allgemein genötigt sehen. Und die Künstler hier sehen sich noch mit einem weiteren Handicap konfrontiert: Sie begreifen sich als Zugehörige einer Gattung, die es von einem pointierten Standpunkt aus gar nicht mehr gibt. Ihr Selbstverständnis als Bildhauer zeigt sich zunächst nämlich bloss darin, dass sie sich das Künstlerleben besonders und buchstäblich schwer machen, indem siedie ohnehin grossen Widerstände materiell vervielfältigen. Als Bildhauer nehmen sie höchste Raum-, Material-und Zeitkosten in Kauf, womit sie ihr Bewegungspotential zum vornherein erheblich beschneiden. Nicht ohne heimlichen Stolz sprach Gründungspräsident Heinz Niederer vor vielen Jahren vom "Anachronismus" der Bildhauerei "in unserer schnellen Zeit". Diese Einschätzung hat sich seither vermutlich akzentuiert. Eine zusätzliche Erschwerung erwerben sich Bildhauer mit der Tatsache, dass ihnen der Wind der Geschichte entgegenbläst. Oder scheint es nur, dass die Kunst immer weniger Werken der Skulptur und Plastik bedürfe? Konjunktur hat jedenfalls nur der Begriff "Objekt", bei dem sich die klassische Zuordnung des Kunstwerks zu einer Disziplin erübrigt. Denn Objekte zeichnen sich gerade dadurch aus, dass sie Malerei, Bildhauerei und Architektur dezidiert überschreiten bzw. unterlaufen. Skulptur und Plastik sind eigentlich nur noch in adjektivischer Form im Gerede. Als "skulptural" oder "plastisch" lassen sich Arbeiten der Kunst bestens charakterisieren, nicht aber identifizieren.
Diese Verschiebung im Wortgebrauch hat nicht nur formale oder gar modische Gründe. Sie spiegelt vielmehr eine veränderte Auffassung von der Erscheinungsform des Künstlerischen. Seit Künstler ihre Aufmerksamkeit vermehrt dem Prozess zuwenden, ist die traditionelle Vorstellung, dass sich das Künstlerische im vollendeten Werk zu manifestieren hat, ins Wanken geraten. Viele sind zur Auffassung gekommen, dass im Prozess der eigentliche Ereignisort des Künstlerischen ist, und dass sich dieses potentiell auf alle Bereiche des Lebens erstreckt. Auf dieser Einstellung gründete die Fluxusbewegung, deren Grundgedanke sich mit der Weisheit des Tao trifft: Das Ziel ist der Weg. Der Künstler ist dann nicht mehr primär als Produzent der Ware Kunst zu begreifen, sondern als Mittler des Erfahrungswissens von Flussereignissen. 
Es geht im Künstlerischen Werk um die gelingende Verbindung der inneren Prozesse des Künstlerselbsts mit den Weltprozessen. Formung ereignet sich im Austausch des sinnlich und geistig aktivierten Subjektkörpers mit der objektiven Welt. Auf dieser Grundlage funktioniert das Kunstobjekt als der Versuch, das Weg-Weltverhältnis des Körpers materiell zu bezeugen. Es ist nicht der Prozess selbst, nur die Öffnung zu diesem, eine Markierung der Einstiegsstelle.
Angesichts des leichten Sinns einer derart offenen, beweglichen Kunstkonzeption mutet der typisch bildhauerische Schaffenszugang mit seinem Beharren auf Masse, Materialität und Handwerklichkeit schwerfällig an. Sind Bildhauer eine aussterbende Spezies? Es gibt Gründe zu vermuten, dass ihre kritische Lage bloss temporär ist. Mit dem Beweglichkeitsgewinn im Wechsel vom Werkkünstlerischen zum Prozesskünstlerischen, wo dann die Kunst weitgehend cerebral funktioniert, bleibt nämlich auch etwas auf der Strecke - die suggestive Kraft verdichteter, körperlicher Präsenz. Hier zeigt sich vermutlich die kulturelle Wirkung des Phänomens der Immaterialisierung, die in der Informatik eine beispiellose Dimension erreicht hat. Tatsächlich hat die informatische Revolution eine gewaltige Drift in die Immaterialisierung erzeugt. Das Speichervermögen des materiell nichtigen Chips hat eine inhaltliche Aufblähung ermöglicht, die jegliche substantielle Information als Garant eines kulturellen Grundbestands entmächtigt. Das Universum gespeicherter Daten vermehrt sich täglich um gigantische Quoten, ohne dass es irgendwo körperlich fassbar wird. Von diesem Informationsgeschehen -als dem dominanten kulturellen Geschehen der Gegenwart - ist die Physis praktisch ausgeschlossen.
Die Physis aber ist, gerade im Zustand kultureller Vernebelung, das bleibende, bergende Weltgefäss. Das Vermögen von Körperlichkeit gilt es sich beim Nachdenken über den Sinn von Bildhauerei zu vergegenwärtigen. Bildwerke sind letztlich immer Übertragungen von Energien eines individuellen Körpers in ein mehr oder weniger beständiges Material. Dieser Ursinn des Bildhandelns ist in der augenscheinlichen Bezogenheit der Bildhauerei auf den Körper besonders einsichtig. Vermutlich wollen und können sich Bildhauer gerade in der Resistenz gegenüber zeitflüchtigen Wertungen legitimieren. Ihr erstes Werkmaterial, Erde, ist ja auch metaphorisch Material des "ewigen Schöpfers".
Die kulturelle Elementarität ihres Tuns zeigt sich eindrücklich in der Entstehungsgeschichte der Schriftkultur, die Viläm Flusser in seinem glänzenden Nachdenken über die Substanz von "Information" erörtert hat. In-Formation ist nämlich ursprünglich ein genuin bildhauerischer Akt, wenn, wie Flusser darlegt, die früheste Informationsspeicherung durch Einschürfen von Zeichen in Tonplatten getätigt wurde. Mit der Entdeckung des Tonbrennens konnte dann die Dauerhaftigkeit der Informationen enorm gesteigert werden, was einen entscheidenden Sieg über die natürliche De-Formation durch zeitbedingten Zerfall bedeutete. Die historische Herleitung erhellt den ursprünglichen Sinn des Formungsakts im Material als eine Massnahme gegen den destruktiven Aspekt der Zeit. Vom Standpunkt des sterblichen Körpers bedeutet das Bild-hauen deshalb nicht weniger als gestaltend eingreifendes Handeln gegen den Tod.