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Niederer, Heinz.

*20.4.1942 Wädenswil (ZH).

 

Plastiker. Visualisierung von Zeitstrukturen.

1958–1962 Lehre als Maschinenschlosser bei den Schweizerischen Bundesbahnen und Besuch der Gewerbeschule in Zürich. 1962–67 und 1970–71 Arbeit in der Industrie und verschiedene Studienreisen. 1968–69 Volontariat bei Silvio Mattioli. Seit 1975 ausschliesslich als Künstler tätig; 1975–77 entstehen Gips- und Betonplastiken, ab 1978 Arbeiten aus veredeltem Stahl unterschiedlichster ferritischer Verbindungen. 1979, 1980 und 1981 Stipendium des Kantons Zürich. 1988, 1996, 1997 Werkbeitrag der StEO-Stiftung, 1990 der Cassinelli-Vogel-Stiftung. Seit 1982 Arbeit an Zeitplastiken. 1983 Gründer und erster Präsident der Arbeitsgemeinschaft Zürcher Bildhauer AZB. 1998 erste, timemark betitelte und auf fünf Jahre geplante Arbeit, die das Internet als Arbeitsinstrument benutzt. Lebt und arbeitet in Zürich.

 

Werk

Mit seinen archaisch wirkenden Stahlplastiken erinnert Niederer an den gesteinshaften Charakter der herausgebrochenen Erze. In Analogie zur geologischen Formenbildung stellt er in den erstarrten Fliessformen des geschmiedeten Metalls die Gestaltungsenergie des Künstlers dar. Manche Plastiken bricht Niederer nach dem Schmieden mit dem Meissel vertikal auf, schleift und poliert ihre Innenflächen und schweisst die Teile achsenverschoben wieder zusammen, wobei die Struktur der rauhen Partien mit den geglätteten Oberflächen kontrastiert. Den unebenen Oberflächen der Metallblöcke entsprechen die mit Frottage kombinierten Zeichnungen. Seit 1980 begleiten Fotografien die Ausstellungen und dokumentieren den Werkprozess der Plastiken.

In den Zeitplastiken ironisiert Niederer die Erhöhung der Kunstwerke ins Überzeitliche, indem er sie in den Ablauf zum Teil grosser Zeiträume integriert. Einerseits verweist er in den seit 1983 entstehenden abgebrochenen Säulenschäften oder zerfliessenden -basen symbolisch auf den Zerfallsprozess des Stahls und stellt die Vergänglichkeit des Werkstoffs seit 1986 sinnbildlich in zungenförmigen, Grabsteinen gleichenden Stahlplastiken dar. Und andererseits visualisiert er die unterschiedliche physikalische Lebensdauer von miteinander kombinierten Metallen, Schmelzen und Wasser in verschiedenen Aggregatzuständen.

Die zeitliche Struktur der Werke kann mehrere Minuten umfassen, so in Eisschiff, 1997; Wochen in ... und Zeit, 1990, einer Zeitvariablen in Gestalt eines Stahlturms, der an Aluminiumstreifen aufgehängte Stahllanzen enthält, die zu Boden fallen, nachdem das Aluminium durch den umgebenden Stahlmantel erodiert ist; Jahrtausende in Zeit II, 1986, einem Objekt aus einer Chromstahlpyramide und Glas, das innerhalb von 25'000 Jahren zerfliesst und sich der Stahlform anpasst; schliesslich Jahrmillionen in den Vier Graphiteiern, die Niederer 1992 im Vulkanschlund des Kilauea auf Hawaii deponierte. Die Graphiteier werden, so das Konzept, in ungefähr 1,8 Millionen Jahren, wenn der Vulkan durch Erosion abgeflacht sein wird, in Form von Diamanten wieder zum Vorschein kommen. Im Internet-Artefakt timemark arbeitet der Künstler seit April 1998 mit der kulturunabhängigen Zeitmarkierungsmethode des Sternenhimmels. Kleine, über die Erde zu verteilende Epoxydharzscheiben besitzen auf ihrer Vorderseite die winkeltreue Lambertprojektion der Nord- beziehungsweise Südhalbkugel und auf der Rückseite, positioniert auf den Erdmittelpunkt, den Sternenhimmel im Jahr 2000. Internetrezipienten des Projekts werden durch den Erwerb einer Scheibe zu Teilhabern am Gemeinschaftswerk und können sich mit ihrer Scheibe und dem eingravierten Namen an einem ausgewählten Ort verewigen. Der dargestellte Sternenhimmel ermöglicht, so der Gedanke, einer späteren hochstehenden Kultur, das erdgeschichtliche Datum der Entstehungszeit der Scheiben zu errechnen.

Indem Niederer Projekte entwirft, die über das eigene Leben hinaus Spuren in eine weit entfernte Zukunft legen, relativiert er die Bedeutung des Menschenalters und stellt einzelkünstlerische Gestaltungsvorgänge als etwas Ephemeres dar; zugleich sind seine Plastiken Sinnbilder für die Dimension der Zeit.

 

Werkverzeichnis, Auswahl.

 

HERB, Platzgestaltung mit vier Stahlplastiken, 1983–84/1994–96, Köniz-Liebefeld, Eidgenössisches Amt für Milchwirtschaft und Veterinärwesen und Eidgenössisches Amt für Gesundheitswesen;
Churerstele, 1980–81, Stahl, Chur, Graubündner Kantonalbank, Schalterhalle;
Vier Graphiteier, 1992, Hawaii, Krater des Vulkans Kilauea;
Sparzava, 1984–1991, Stahl, geschmiedet, Wasserscheide Rhein-Donau, Dschimels am Albulapass;
Chapalki, 1989, Stahl, geschmiedet, Schlieren, Schweizerische Bankgesellschaft; Kunsthaus Zürich;
Wasserspiel, 1975–77, Spritzbeton, Zürich, Wasserwerk Hardhof, Tramhaltestelle Hardturm;
Bogen, 1988–1991, Stahl, rot gespritzt, Zürich, Solida-Park, Badener-/Saumackerstrasse.
EisenFluss, eine Zeitskulptur Zürich 2001.

 

  Literatur:

Zeitskulptur. Volumen als Ereignis. Linz, Oberösterreichische Landesgalerie, 1997. [Texte:] Anselm Wagner, Peter Assmann. Weitra: Bibliothek in der Provinz, 1997

Kunst und Landschaft in Graubünden, Bilder und Bauten seit 1780. Text und Konzept: Leza Dosch
Verlag Scheidegger und Spiess, 2001

Opus Magnum. Projekt für eine Skulptur. Mit einem Textbeitrag von Paul Meyer-Meierling. Zürich: Edition Unikate, 1997

Metall Symposium. Spital am Pyhrn. Jürg Altherr, Sepp Auer, Werner Feiersinger, Franco Ionda, Michael Kienzer, Heinz Niederer, Richard Nonas, Peter Sanbichler, Franz West. [Texte:] Amnon Barzel [et al.]. [Linz], 1996

Fragile. Handle with Care. Eine österreichisch-schweizerische Gemeinschaftsausstellung. Gemäldegalerie der Akademie der bildenden Künste in Wien, 1996. Ausstellung: Brigitta Malche. Männedorf: Edition Nomad, 1997

Arbeitsgemeinschaft Zürcher Bildhauer im Gaswerk Schlieren. [Texte:] Hans Renggli, Ursina Jakob. Zürich: Teamart, 1993

Eisen 89 - Perspektiven Schweizer Eisenplastik 1934-1989. [Hrsg.] Verein Eisen 89, Dietikon; [Texte:] Volker Schunck, John Matheson; Vorwort: Felix A[ndreas] Baumann. Zürich: Offizin, 1989

Eisen. Schmiedehandwerk, Holzköhlerei, Kunsthandwerk, Kunst, Baustoff Eisen. Winterthur, Technorama, 1988. [Texte:] Willy Rotzler [et al.]. Winterthur, 1988

Rolf Lambrigger: Zürich. Zeitgenössische Kunstwerke im Freien. Geleitwort: Thomas Wagner; Vorwort: Sigmund Widmer; Einleitung: Rolf Lambrigger. Zürich: Orell Füssli, 1985

Kunst am Bau. Industrielle Betriebe der Stadt Zürich. Text und Konzept: Yvonne Höfliger. Zürich, 1984

Dietmar Weber: «Betonplastik im Wasserspiel». In: Cementbulletin, 1978, 2

 

 

Jochen Hesse

 


                    Auszug aus dem  Lexikon der Schweizer Kunst, Seite 780-781
                    herausgegeben vom Schweizerischen Institut für Kunstwissenschaft Zürich und Lausanne 1998
                    Verlag Neue Zürcher Zeitung