Wie Kunst aus einem «städtischen Unort» einen Erlebnisraum macht.

Eine unlängst erfolgreich realisierte Ausstellung von grossen Eisenskulpturen auf der Dachterrasse der Post in Wipkingen gab der Stadt Zürich Anlass, nun kleinere Objekte in der stillgelegten Personenunterführung unter dem Wipkingerplatz zu präsentieren. Mit diesem Projekt leistet das Tiefbauamt der Stadt Zürich nicht nur einen Beitrag zur Kunstvermittlung, sondern thematisiert einen wichtigen Aspekt des Umgangs mit öffentlichen Räumen.

 

 

Die ausgestellten Arbeiten der Plastiker Jürg Altherr und Heinz Niederer schlummerten über Jahre in den Schubladen und Regalen der Künstler. Es sind sprudelnde Kreativitätsbeweise, die der Öffentlichkeit bisher aus irgendwelchen Gründen vorenthalten blieben. Weil die Arbeiten bisher im Dunkeln ruhten, werden sie gegenwärtig auch im Untergrund präsentiert – in der seit längerer Zeit ungenutzten Personenunterführung unter dem Wipkingerplatz.

 

 

Zwei gegensätzliche Künstler und ein harmonischer Guss

 

Konträrer könnten Jürg Altherr und Heinz Niederer, zwei Altmeister der in Schlieren ansässigen Arbeitsgemeinschaft Zürcher Bildhauer (AZB), in ihrer Arbeitsweise nicht sein. Genau aus diesem Grund schliessen sie zusammen einen faszinierenden Kreis abstrakten Schaffens. Hier die mehrheitlich geometrischen Umsetzungen eines strengen, strukturierten Denkers, dort der höchst sinnliche und weiche Zugang zum stahlharten Werkstoff Eisen.

 

Jürg Altherr präsentiert sechs Modelle und Konzepte von Plastiken und Brücken, die in den letzten 30 Jahren entstanden sind, aber nie realisiert wurden. Es sind zumeist Wettbewerbseingaben, die deshalb auf der Strecke blieben, weil sie dem Zeitgeist vielleicht ein Stück voraus waren. Als Landschaftsarchitekt und Bildhauer beschäftigt sich Jürg Altherr seit jeher mit Kunst im öffentlichen Raum. Was ihn interessiert, ist das Zusammenspiel von plastischen und natürlichen Elementen von Architektur und Landschaft. Seit 1976 hat er zahlreiche Plastiken und Metallarbeiten geschaffen, die im Freien das Phänomen der Balance in teilweise irritierender oder nachgerade bedrohender Weise ausreizen. Durch geschickte Belastungsvorgänge und komplexe Gleichgewichtssysteme schafft er stabile Kräftebalancen. Es sind zum Teil schwerelos wirkende Objekte, zum Teil schwingende Brücken.

 Heinz Niederer zeigt 32 Eisenskulpturen – alle vor rund 30 Jahren auf einer 2000-Tonnen-Presse bei Sulzer Winterthur geschmiedet, wo ansonsten Zylinderdeckel für Dieselmotoren produziert wurden. Die erstmals ausgestellten zwei bis fünfzig Kilo leichten Kleinplastiken entstanden weniger aus einem formalen Plan, als vielmehr aus dem Willen des Künstlers, die Grenzen des Werkstoffs «Stahl 50» zu erkunden und somit auch die eigenen Schaffensgrenzen auszuloten. Es sind eigentliche Materialbeschwörungen, bei denen es Niederer darum ging, dem Stahl seine verborgenen Kräfte und Formen gewaltsam zu entlocken. Das in der Personenunterführung präsentierte Resultat dieser Schmiedekunst ist folglich, ganz im Gegensatz zu Altherr’s Modellen, eine strenge Arbeit  an der Grenze des technisch Machbaren.

 

Wiederbelegung eines «Unortes»

 

Die schlauchförmige Passage hat zwei Ein- beziehungsweise Ausgänge und war bislang durch Gittertüren abgeschlossen. Der alten Funktion entzogen, hat dieser Raum eine neue Bestimmung erhalten. Doch nicht nur die Kunst kann sich darin gut entfalten, auch der Raum spricht Bände. Er verkörpert ein Stück Stadtgeschichte und animiert durch seinen Standort und durch seinen eigenwilligen Charakter zum Nachdenken.

 

Die Stadt verändert sich, Verkehrsysteme entwickeln sich. Die einst wohlgemeinte Absicht, Fussgänger auf die andere Strassenseite schützend unter dem Boden zu führen, kam einer Priorisierung des motorisierten Verkehrs gleich. Heute wird zumindest versucht, den Fussgängern im öffentlichen Bereich entgegenzukommen und ihnen dort mehr Raum zu bieten. Doch die stillen «Unorte» im städtischen Untergrund existieren weiter. Eine Herausforderung der Stadtplanung besteht nun darin, diese auf attraktive Weise neu zu beleben.

 

Einladung an die Bewohnerinnen und Bewohner von Wipkingen

 

Die Ausstellung führt der Öffentlichkeit vor Augen: Die seit langem brachliegende Unterführung ist plötzlich kein unheimlicher Durchgang mehr, sondern ein Erlebnisraum mit neuen Inhalten und Funktionen. Dank ihrer Wiederbelebung wollen derartige Orte neu entdeckt werden. Sie regen die Öffentlichkeit zum Nachdenken über die urbane Entwicklung an und fördern gleichzeitig ein besseres Verständnis der baulichen Veränderungen in der eigenen Stadt. Deshalb wendet sich die Ausstellung «Ungesehenes im Untergrund» in erster Linie an Quartierbewohner, Jugendliche und Kinder, die im Umfeld der Passage leben.

 

Jugendliche, die auf der Postterrasse die Zeit totschlagen und bisweilen auch nächtigen, meinen überrascht: «Ganz vergessen… Aber natürlich, mit dieser Unterführung sind wir doch aufgewachsen. Jetzt läuft hier wieder etwas!» Die Kleinen in der Kinderkrippe nebenan ahnen indessen nicht, dass unter dem Boden jemals ein öffentlicher Durchgang führte. Sie werden ihn entdecken, zusammen mit ihren Eltern.

 

 

Yves Schumacher 2014