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Der Zeitplastiker von Zürich 

 

Man nannte sie Venediger, Studenten oder Fahrende. In unzähligen Alpenländischen ist von ihnen die Rede. Gemeint sind in jedem Fall ortsfremde Personen von kleinerem Körperwuchs, die bergmännische Kenntnisse hatten. Sie galten ganz allgemein als gutartig, waren den Sesshaften aber unheimlich. Denn sie konnten zum Beispiel Schlangen bändigen und Steine in Gold verwandeln. Die Venedigersagen überliefern jedenfalls die Erinnerung an machtvolle Metallurgen. Einer der letzten Venediger ist zweifellos der aus dem Appenzellerland stammende und in Zürich wohnhafte Sucher und Finder Heinz Niederer.



Zerbrechliche Materialität

Viele kennen Niederers frühere Arbeiten: Stahlplastiken, welche die gesteinshafte Ausstrahlung von Eisenerzen haben. Erinnern uns diese Werke nicht auch an die Sagen von Fahrenden, die auf den Alpen Steine einsammelten, um sie alsdann in gediegenes Gold zu verwandeln?
Wer Niederer in den Achtzigerjahren je beim Schmieden an der 2000-Tonnen-Presse bei Sulzer in Winterthur gesehen hatte, konnte bemerken, dass es ihm um die Transmutation des Eisens ging. Er walzte, knetete, verdichtete und verformte seine Rohlinge, bis sich alle Moleküle gleichläufig richteten. Die von ihm malträtierten Eisenkörper verändern ihre Ausstrahlung und präsentieren sich wie Streifen aus Mürbeteig. Oft bricht der Künstler die Fliessformen vertikal auf, schleift und poliert die Innenflächen und setzt sie alsdann achsenverschoben wieder zusammen.
Niederers Erkundungen materialisieren sich in Eisenplastiken, die einen Gegenentwurf zur zweckbestimmten Metallbearbeitung bilden. Hier wird Stahl in einer neuen, zum Teil zerbrechlichen Materialität erlebt. Es sind archaische Objekte, die den Gestaltungswillen des Eisenbändigers verdeutli­chen. Noch wichtiger als diese Mate­rialerfahrungen ist für den Künstler die Arbeit an unserem Zeitbewusst­sein. Zeitplastiken nennt er seine Werke, bei denen es um Hunderttausende von Jahren oder auch nur um kurze Augenblicke geht.

Auf Niederers Werkplatz am Gestade der Limmat recken sich tonnenschwere Eisenmonster.
Eingesperrt, im Schatten dieser Titanen, steht auf einem Sockel eine würfelförmige, kleine Plastik. Sie besteht aus einer perfekten Chromstahlpyramide. Auf ihrer Spitze ruht, vorläufig noch, eine 24 Millimeter dicke Glasplatte. Aber nicht mehr lange, denn Glas fliesst. Bis in 25860 Jahren wird es den Metallkörper wie einen Schokokuchen glasiert haben. Diese vom Künstler berechnete Zeitspanne nennt sich ein platonisches Jahr und entspricht ziemlich genau der Halbwertszeit von Plutonium und der Präzession genannten Pendelbewegung der Erdachse. Wer sich den zeitlichen Ablauf dieses Glasflusses vergegenwärtigt, stellt sich unweigerlich Fragen zu unseren Atommülllagern.




Diamantenkeime im Vulkan

Wie die Fahrenden früher in der Schweiz unverhofft auftraten, tauchte Niederer 1990 eines Tages auf der Hawaii-Insel Big Island auf und tummelte sich tagelang mit einem schweren Sack auf dem Rücken im Krater des Schildvulkans Kilauea herum. Als er endlich den richtigen Ort im Vulkanschlot gefunden hatte, versenkte er klammheimlich hundert Kilo Grafit im Boden. Er, der Venediger  weiss, dass dieser Kohlenstoff in Temperaturen von tausend Grad Celsius unter einen unvorstellbar hohen Druck von 16 Kilobar kommen wird. Der Vulkan wird noch etwa 400 000 Jahre wachsen. Die Eruptionen werden das Grafit demnächst in eine halbe Million Karat reine Diamanten umwandeln. Demnächst heisst, in Niederers Zeitdimensionen natürlich, in etwa 1,8 Millionen Jahren. Dann nämlich wird der Vulkan, vom pazifischen Regen aufgepeitscht, vollkommen erodiert sein. Die Diamanten bleiben dann, sofern sie nicht verbrennen, unseren Nachkommen erhalten.



Ein stilles Zeitmal

Niederer begab sich auf die geheimen Pfade der Venediger und kundschaftete die alten Römerwege im Gebirge aus. Am Albulapass stiess er auf die Wasserscheide Rhein - Inn. Dort liegt ein Steingletscher neben zwei kegelförmigen, Dschimels genannten Bergen. Ein magischer Ort auf 2800 Meter über Meer. Der einzige Platz, der seinem Wasserteiler gerecht werden konnte. Der Wasserteiler - eine vier Tonnen schwere Eisenplastik, die an einen abgebrochenen römischen Tempelpfeiler erinnert, musste auf den Bergrücken transportiert werden. Ein Kunststück für sich.
Niederer kratzte seine Ersparnisse zusammen und liess den Stahlkoloss mit einem russischen Grosshelikopter auf den Bergspitz transportieren. Dort wird er noch etwa 6000 Jahre dem Elmsfeuer trotzen bis ihn Blitz und Regen, Wind und Frost zu einem Häufchen Rost reduzieren.
Vorläufig sammelt er in seinem eingeschmiedeten Trichter jeden Tropfen Regenwasser ein, die durch zwei rechtwinkelig abzweigende Auslässe salomonisch geteilt werden. Die eine Hälfte des Wassers fliesst in den Rhein beziehungsweise in die Nordsee, die andere Hälfte über den Inn in das Schwarze Meer. Die Zeitplastik «Sparzava», für wandermüde Städter unerreichbar, ist ein stilles Zeitmal.



Das Eisboot auf der Donau

Heinz Niederer ist von Aggregatsveränderungen der Elemente fasziniert. Zeitweilig verliess er das Feuer und begab sich auf Glatteis. In den unterirdischen Anlagen des Gaswerkes Schlieren liess er einen gewaltigen, eisigen Stalaktit von der Betondecke herunterwachsen.
Er erprobte den Werkstoff Wasser und erfuhr bald, dass Eis nicht immer Eis ist. «Eis ist ein Mineral, das je nach Temperatur völlig verschiedene Eigenschaften aufweist», erklärt der Künstler. Höhepunkt seiner persönlicher Eiszeit ist ein Flussfahrtsunternehmen ohnegleichen. 1997 liess Niederer in Linz einen Kahn aus Donauwasser gefrieren. Dann übergab er das sechs Meter lange und zwei Tonnen schwere Eisboot der Donau. Traumhaft: Ein Schiff, ganz aus Wasser, tanzt im Nachthimmel in den Fluten. Der Strom trägt es nach Osten, und ganz langsam zerschmilzt das Schiff wie eine Oblate auf der Zunge.



Gedächtnis eines Sommers

Im Sommer 19991iess Niederer die Sonne für sich arbeiten. Im Rahmen der Freilichtausstellung «Bex & Art» stellte er einen «Memorateur» in die Landschaft. Eine ästhetisch reizvolle Plastik mit einem integrierten Brennglas. Sie ist so ausgelegt, dass die Sonne täglich ihre Spur auf ein Band brennt. Was zurückbleibt, ist das Gedächtnis der Sonnenintensität eines kurzen Sommers, materialisiert in Form eines einzigartigen Heliogramms. So wie Heinz Niederer den Sonnenlauf aufzeichnet, fixierte er den Sternenhimmel auf eine handbreite, quadratische Glasplatte. Nicht irgend ein Sternbild, sondern die präzise Konstellation am Himmelsgewölbe vom 24. Dezember 2000. «Meine <Timemarks> werden erst dann zur Kunstaktion, wenn sie die Besitzer, deren Namen unauslöschlich im Objekt eingraviert sind, im Meeresgrund versenken lassen. Die <Timemark> ist so gut wie unverwüstlich. Archäologen künftiger Jahrtausende werden das mysteriöse Glasobjekt ausgraben und anhand der festgehaltenen Sternenkonstellation exakt datieren können», spekuliert der Künstler mit verschmitztem Lächeln.

2001 leistete Niederer im Rahmen der langen Nacht der Zürcher Museen vor tausenden von Zuschauenden eine geradezu alchemistische Arbeit. «EisenFluss» nannte er diese Zeitskulptur, die er in einer feurig-poetischen Inszenierung den Fluten der Limmat übergab. Man stelle sich vor: Gleissende, dickflüssige Eisenstrahlen zischen vom Brückengeländer in die Tiefe. Die Trichter entleeren Eisen in Temperaturen um zweitausend Grad und bieten das Seherlebnis eines ungewohnten Farbspektrums. Der Eisenfluss geht im Fluss auf, zarte Feuerschweife leuchten unter Wasser und folgen dem Lauf der Limmat - sekundenlang, kometenhaft. Wasser zähmt das Eisen, entzieht es jeder Kontrolle - die Skulptur löst sich im Fluss auf. Die Fluten verschlucken das Eisen; sie zertrümmern den Strahl und tragen die Schlacke fort. Gewässerverschmutzung? Mitnichten. Was im Flussgrund zurückbleibt, ist ganz natürlich: ein paar Eisenkü­gelchen, mehr nicht.

Das Thema der Zeitplastiken begleitet Heinz Niederer seit den Achtzigerjahren. Er stellt seine Arbeiten in epochale Räume, beschleunigt oder symbolisiert Zerfallsprozesse und verdeutlicht somit die Wandelbarkeit und Vergänglichkeit der Elemente. Er erweitert sein Werk mit der letztlich nicht fassbaren Zeitdimension und relativiert somit die Beständigkeit individualkünstlerischer Leistungen.
«Im kosmischen Massstab gesehen hat nur das Fantastische eine Chance, wahr zu sein», sagt Niederer. Der Künstler zitiert dabei den grossen französischen Wissenschaftler Teillard de Chardin, der sich auch nicht scheute, Jahrtausende vor- und zurückzugreifen.

©Yves Schumacher 2002