Ausstellung von Vincenzo Baviera, Heinz Niederer und Hartmuth Wirks im Gluuri-Suter-Huus in Wettingen am 6. Juni 2010
 

 Ansprache von Peter Zeindler

Es ist sicher ein Kunststück, so sperrige Künstler, ich meine in unserm Fall Heinz Niederer und Vincenzo Baviera, zu domestizieren. Mit dem Ausdruck Domestizieren meine ich den Versuch, diese Männer mit ihrem expansiven Kunstkonzept in geschlossenen Räumen zu präsentieren. Ich möchte zu bedenken geben, dass zum Beispiel Heinz Niederer in der Nähe der Albulapasshöhe eine Wasserscheideplastik aufgestellt hat, auf der Wasserscheide zwischen der Ostsee und dem Schwarzen Meer, dass er Standorte für seine Werke vorzieht, die mindestens eine halbe Stunde vom nächsten Autoparkplatz entfernt sind.
Oder wenn ich an Vincenzo Bavieras gewaltigen Räderwerke denke oder an seine rollenden Räder im Safiental, um nur diese Beispiele anzuführen, wenn ich die Dimensionen dieser Arbeiten berücksichtige, dann wird einem klar, welches der elementare künstlerische Anspruch von Baviera und Niederer ist – ein, in Anführungszeichen, „grössenwahnsinniger“ Anspruch. Das hat selbstverständlich auch mit dem zum Teil tonnenschweren Material zu tun, mit dem sie sich tagtäglich beschäftigen: Eisen!

„Dass ich Eisenplastiker wurde hat mit dem unbedingten Anspruch zu tun, dieses archaische, scheinbar hermetische Material zu beherrschen, es zu schmelzen, es nach meinen Vorstellungen zu formen.“ Dies ein Zitat von Heinz Niederer. 
Niederer, 1942 in Wädenswil geboren, hat eine Lehre als Maschinenschlosser absolviert. Er hat sich später zum Betriebsfachmann ausbilden lassen, hat in den Jahren 1968/69 im Atelier des Zürcher Bildhauers Mattioli mitgearbeitet, bevor er selbst als eigenständiger bildender Künstler in Erscheinung trat, seit 1975 ausschliesslich, zuerst mit Beton- und dann mit Stahlplastiken. 
Eisen – da tauchen vor unserem geistigen Auge mythenbesetzte Bilder auf: Wir denken an Hephaistos, den Gott des Erdfeuers und den Schutzpatron der Schmiedekunst, und in dessen Nachfolge sah sich denn auch Niederer, beseelt von diesem „grössenwahnsinnigen Bestreben“ (ich zitiere den Künstler) mit Eisen Sinn-Bilder der Welt zu erschaffen.“

Das Material Eisen, so Niederer, faszinierte ihn auch deshalb, weil es die angestrebte, scheinbar endgültige Form letztlich in Frage stellte: Es zerfällt mit und in der Zeit. Diese – wieder in Anführungsstrichen „schizophrene“ Haltung, scheint mir charakteristisch zu sein für die meisten Künstler, die sich mit Eisen beschäftigen. Sie zielen auf die Unendlichkeit, auf das Überleben im Wissen um den Faktor Zeit, der die Grenzen aufzeigt. Niederer gibt seinen Plastiken keine Titel, Namen, nur Nummern. Dies ist wohl ein Versuch, sie dem menschlichen Bedürfnis nach Benennung, Katalogisierung, zu entziehen. Und so ist wohl die 15 Tonnen-Eisenplastik an der Badenerstrasse in Zürich vielleicht sein einziges Werk, das einen Namen hat: Chapalki. Das ist das erste Wort für Eisen, das die Hethiter 2000 Jahre v.Chr. von den Chatten übernommen haben. Alle seine Arbeiten, so Niederer, müssten eigentlich der Universaltitel „Unterwegs“ tragen. Niederer sucht die Standorte für seine Plastiken nicht vor der Haustür. Er will Distanz zu seiner eigenen Person, zu seinem Atelier auf dem Gaswerkareal von Schlieren, wo er mit vielen bildenden Künstlern in einer losen Gemeinschaft wirkt. Niederer versteht sich als Unbehauster, der sich aussetzt, sich und seine Konzepte immer wieder aufs Spiel setzt: Unterwegs nach der definitiven Form unterstreicht er immer wieder das Vorläufige. Und dieses Vorläufige wird immer vorläufiger: Die Zeit der 20-Tonnen schweren Eisenplastiken ist vorbei: Die Firmen, in denen man Grossplastiken schmieden konnte (Sulzer, von Roll als Beispiele) haben ihre Schmieden ins Ausland, in Billiglohnländer verlegt. Jetzt geht Niederer seinen Werkstoff ausschliesslich mit eigenen Maschinen an, mit Fräs- Bohr- und Kopiermaschinen. Mit seiner Schweissanlage. „Eisen ist zum Episodenstoff geworden“, sagt Niederer, und so greift er vermehrt auf Stück aus seinem Fundus zurück, kauft sogenannte Mangelware auf, Teile mit Fehlern, die er dann neu angeht, wissend um die Funktion, die ihnen zugedacht war. Er spielt mit diesen Teilen, unterwirft sie seinen Vorstellungen, fixiert sie in reduzierter, gebändigter Form, in Massen, die die Räume, in denen wir sie hier wiederfinden, nicht sprengen, sondern sie ausdehnen. Expansion in der Zeit ist noch immer ein wesentlicher Faktor.

 Niederer hat mir von einer Begegnung seines Lehrers Mattioli mit dem rumänischen Bildhauer Brancusi in dessen Pariser Atelier erzählt. Mattioli hat ihn dort angetroffen, wie er mit einem Besen den Boden säuberte. Was er denn für neue Projekte habe? „Rien, c’est fait », hat Brancusi geantwortet. Er war angekommen. Vorzeitig. 

Ankommen – ich denke, dass ist für Niederer – und sicher auch für Vincenzo Baviera, auf den ich jetzt zu sprechen kommen möchte – ein Ziel jenseits des sichtbaren Horizonts. 
Es gibt – so meine Erfahrung – nicht sehr viele bildende Künstler, die eindringlich, souverän über sich und ihr künstlerisches Konzept referieren können. Ich weiss nicht, ob Baviera und Niederer Ausnahmen sind, aber die Intensität, mit der sie in unseren Begegnungen ihre Theorien entwickelten, war für mich sehr beeindruckend. 
Als ich vor einer Woche Vincenzo Baviera in seinem Refugium – oder soll ich sagen in seiner Festung, im hintersten Winkel des Kantons Schaffhausen , in Beggingen, besucht habe, war dies eine Begegnung ohne Vorbehalte: Ich habe an diesem Nachmittag, als wir hinter seinem Bauernhaus, Wohnung und Atelier zugleich, durch seinen Figurengarten streiften. sowohl den Menschen Baviera als auch den Künstler und den Kunsttheoretiker umfassend kennen gelernt, zuerst nacheinander, dann sozusagen gleichzeitig als geballte Ladung, der eine vom andern nicht mehr zu trennen.

Vincenzo Baviera, Jahrgang 1945, in Zürich geboren, hat an der ETH Architektur studiert und an dieses Studium ein Jahr an der Universität Zürich angehängt, wo er sich mit Sozialpsychologie und Ethnologie befasste. Bavieras Bildungsgepäck, das er ja auch als Dozent an Hochschulen an andere weitergegeben hat, ist beeindruckend. Und so denke ich, ist es kein Zufall, dass sein Zugang zu seinem Werkstoff Eisen ein anderer ist, als der von Heinz Niederer, der sich ihm, wie erwähnt, sozusagen in der diretissima, über das Handwerk angenähert hat. Baviera arbeitet mit sogenannten Halbfabrikaten, also mit Teilen, in denen bereits ihre Bestimmung, ihre Funktion innerhalb eines ganzen Industrieprodukts, vorgegeben ist. Er ist ein Konstruktivist, der seine Hauptaufgabe als Künstler darin sieht, das Material, das durch einen industriellen Prozess gegangen ist und mit dem er sich befasst, zu beseelen. 

Als Schriftsteller weiss ich, wie sehr die eigene Biographie, die Welt des eigenen Herkommens, sich auf die die Kreativität und die Richtung, in der sie drängt, Einfluss nimmt. Baviera leitet sein Bedürfnis der Zusammenführung scheinbar auseinander strebender Teile ebenfalls aus seiner Biographie ab: Er bezeichnet sich als Go-Between, bezieht sich auf seine Rolle damals in der Familie, als er (erfolglos, wie er heute behauptet) Harmonie anstrebte, die einzelnen (auseinanderstrebenden) Familienmitglieder zu synchronisieren versuchte.
Und so strebt er auch heute in seinem Beruf als Eisenplastiker die vollkommene Form an. Er versteht seinen Beruf als Künstler auch als sozialen Auftrag, will schöne Objekte herzustellen, dem Betrachter zu einer sinnlichen Erfahrung verhelfen. Mit Bavieras Objekten kann man spielen; man kann sie abtasten, in Bewegung setzen, kann ihnen Töne entlocken. Wenn er sich für eines der Halbfabrikate entschieden hat, das er weiter bearbeiten will, sucht er bei diesem Objekt nach dem neuralgischen Punkt: Dort setzt er an, um sich einzubringen, um dem ursprünglichen Teil eine neue Dimension abzugewinnen, die seiner Vorstellung entspricht. Gleichzeitig versucht Baviera, dem Territorialanspruch der Skulptur gerecht zu werden. Sein Ziel: Die vollkommene Form im entsprechenden Raum. Bavieras Skulpturen weisen über die gängigen drei Dimensionen, Höhe, Breite, Tiefe zwei zusätzliche Dimensionen auf: Zeit und Gravitation. Deshalb spielt in seinem Schaffen das Pendel eine so dominierende Rolle. Doch – es gibt keinen typischen Baviera, keine Form, auf die man ihn festlegen könnte, wenn auch letztlich der Kreis, sei es ein Pendel, ein Tankdeckel, seien es Räder, als seine Urform bezeichnet werden kann, eine archetypische Form, die er immer aufs Neue in neuen Räumen angeht. Neue Räume – er erobert sie mit seinen Installationen, besiedelt freistehende Areale, immer auf der Suche nach einer endgültigen Heimat. 

Hier, in dieser Ausstellung finden wir Bavieras Ur-Formen in verschiedenster Ausprägung, kleiner Formate, deren Anspruch aber, neue Räume zu erobern überall ablesbar ist.

Dass diese Ausstellung mit Eisenplastiken von Baviera und Niederer durch eine Folge von Werken des deutschen Fotografen Hartmut Wirks ergänzt wird, ist kein Zufall. Und die Bezeichnung Ergänzung ist nicht abwertend gemeint, sondern in den hier ausgestellten Fotografien finden wir Motive, die letztlich auch in den Werken der beiden Eisenplastiker zu finden sind: Das Element der Vergänglichkeit, der „Zahn der Zeit“, die Schnittstelle, wo Leben in Tod umkippt. 

Hartmut Wirks, Jahrgang 1961, hat an der Hochschule für Gestaltung in Offenbach, später auch an der Akademie für Bildende Kunst in Rotterdam studiert. Seit 1990 ist er freiberuflich als Gestalter und Fotograf tätig. Er ist kein Spätberufener. Schon im Alter von zwölf Jahren, 1973 also, war er mit einer Agfa-Instamatic unterwegs. Damals hat er unter anderem in einem kleinen Ferienhotel, wo er mit seinen Eltern den Urlaub verbrachte, Aufnahmen gemacht. Vor sechs Jahren, unterwegs nach Albanien, hat er – ohne sich an die Ferien von damals zu erinnern – am selben Ort einen Zwischenhalt eingeschaltet und ist dabei zufällig auf das Hotel gestossen, das ihm damals als angehender Fotograf unter anderem als Objekt gedient hat. Und auch diesmal hat Wirks dieses Hotel fotografiert. Nur: Es entstanden Aufnahmen einer zerstörten Idylle. Überall Spuren eines grausamen Krieges. Lost Paradise. Auf diesen Bildern von 2004 sieht man ein zerstörtes Treppenhaus, geborstene Wände, Einschusslöcher, verrammelte Fluchtwege, Decken, die einem buchstäblich auf den Kopf fallen. Da gibt es aber in dieser verwüsteten Umgebung auch Durchblicke, Augen – Blicke in eine scheinbar heile Welt draussen, in die Welt davor, ein Gegensatz, der diese Gegenwart noch erschreckender werden lässt. Erst nach seiner Rückkehr, als er seiner Mutter von diesem Hotel erzählte, wurde Wirks klar, dass es sich um dieselbe Örtlichkeit handelte, die er damals als Kind fotografisch erkundet hat. Die Bilder von damals liessen sich nicht mehr kongruent über die neuen Aufnahmen legen, die Zeit dazwischen, nicht als Resultat eines langsamen Zerfalls, sondern die Zerstörung hat die Zeit mit einem Schlag gewaltsam komprimiert, hat die Erinnerung gelöscht. Es bleibt die Ahnung vom dem, was einmal war. 

In dieser Ausstellung konfrontiert Hartmut Wirks die Fotografien aus seiner Kindheit, leicht modifiziert, um den Erinnerungscharakter zu betonen, mit den Bildern aus dem zerstörten Hotel. Gerahmt, im Kleinformat, hängen sie neben den ungerahmten ungleich grossformatigeren Bildern von 2004. Was Niederer und Baviera in ihren Skulpturen einfangen, darstellen, ist bei Wirks im wahrsten Sinn des Wortes ins Bild gesetzt: Ein Stück Biographie, eigene und Weltbiographie.

Es sind dies Dokumente einer Zivilisation, die gelernt hat, mit dem Wahnsinn zu leben – so hat Heinz Niederer sein eigenes Werk, seinen künstlerischen Anspruch zu formulieren versucht. Dieser Satz hat wohl auch Gültigkeit für das Werk von Hartmut Wirks und Vincenzo Baviera.